Der Weise geht auch heute nicht aus dem Haus

 

Der Weise geht nicht aus dem Haus,

es zahlt sich nicht aus.

Er sieht durch das Fenster,

wie die Welt funktioniert,

und an sich selbst,

wie der Mensch handelt.

 

So weit, so bekannt.

Dem Philosophen und dem Mathematiker gestand man es von vornherein zu, den Psychologen mit einer Psychologie außerhalb der Philosophie hatte noch keiner postuliert.

Was rechtfertigt aber heute den alten Spruch als weisen?

Die Beobachtung, daß der Psychologe, der die Philosophie als fachfremd im engeren und fachnahe im weiteren Sinn erachtet, in der Banalität endet.

(So wie der Philosoph, der die Psychologie nicht berücksichtigt, in der den Menschen entwürdigenden Ideologie endet.)

Und – bei näherem Hinsehen – dort enden muß, weil er eben dort beginnt.

Die Philosophie betreibt man durch das faszinierte und ehrgeizige Anstrengen des erkenntnisdurstigen Geistes, der nur deshalb erkenntnisfähig ist, weil er logische Zusammenhänge in den Phänomenen der menschlichen Erfahrung der Welt und des Selbst sehen kann.

So bildet man auch die Arbeitshypothesen über die Logik der Dinge, die man in der Naturwissenschaft dann aus der Interpretation von Messungen verschiedener meßbarer Phänomene, deren statistische Zusammenhänge entsprechende Wirkzusammenhänge als wahrscheinlich verwerfen oder als wahrscheinlich annehmen lassen, als vorläufig richtig oder falsch erkennt.

In der Geisteswissenschaft, wenn es also um die Bedeutungen der Dinge geht, kommt man mit dem methodischen Prinzip der Objektivität und Wiederholbarkeit im systematisch kontrollierten Erheben und Deuten von Messungsdaten nicht aus, weil die Subjektivität der entscheidende Faktor ist, der Zusammenhänge sehen oder übersehen läßt.

Die höchstpersönliche individuelle Variante der milieuspezifischen und kulturspezifischen und zeitspezifischen Weltanschauung, des Menschenbildes und der Lebensphilosophie entscheidet per Selektivität für die Wahrnehmungen und möglichen Deutungen ihrer Logik, was man sehen möchte, sehen kann und nicht sehen kann.

Zudem ist diese individuelle Selektivität lebenslang in Entwicklung vom alten Bisherigen zum neuen Aktuellen.

Jeder Mensch verfügt daher über das scheinbare, vorläufige Wissen von mehreren, vielen, sehr vielen, ja, überreichlich vielen verschiedenen systematischen Beobachtern und Bedeutern.

Jedesmal, wenn einer bemerkt, das habe ich noch nie so gesehen, das fällt mir jetzt zum ersten Mal auf, daß es so ist, hätte ich mir bis gestern nicht einmal vorstellen können, hat sich ein weiterer Beobachter mit weiteren subjektiven Erkenntnissen – aus dem Blauen heraus, wie es erscheint – manifestiert.

Und angesichts dessen, daß der Mensch ein fortwährend vernünftig und moralisch Handelnder ist, testen wir spontan und unvermeidlich die jeweils neue Hypothese in Konkurrenz zu allen bisherigen und bedeuten sie im Insgesamt aller Hypothesen und Theorien und Erfahrungen von unzählig vielen subjektiven Forschern, deren verantwortlicher Teamchef wir sind.

Die gern als „sexy“ Begriff genannte Multiperspektivität ist Conditio Humana, sowie schon präanthropologisch biologisch konstant für alles Leben in der Zeit.

Eine Spezies und Organismen mit bewußtem freien Denken wie wir, hat ihre Identität aus dem ehrgeizigen systematischen Ausreizen dieser biologischen Multiperspektivität.

 

Wenn also jemals der Weise nicht aus dem Haus zu gehen brauchte, dann braucht er es heute am allerwenigsten.

Und morgen noch weniger.

 

Daß es somit auch heute und morgen keine Ausrede für den Verzicht auf Weisheit und auf ihre Berücksichtigung im Leben gibt, sondern im Gegenteil, noch viel weniger als gestern und vorgestern, ergibt sich daraus zwanglos.

 

 

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