Vom Licht der Liebe und seiner Trübung
Die Liebe als Ideal und Fundamentalismus
Was ist dem Menschen am wichtigsten?
Die Liebe. Anteil an ihr haben, in ihr sein, sie auf sich gerichtet spüren und auf den anderen richten. In ihr bewerten, beurteilen, urteilen, entscheiden und handeln. Aus ihr heraus, in ihr, mit ihr, nach ihrer Logik, ihrer Vernunft, ihren Zwecken, ihrem Sinn.
Das ist instinktiv so, weil es biologisch notwendig ist und damit sozial, denn das individuell Organismische ist von vornherein gegeben ein Soziales, von der Entstehung über die Erbmasse bis zum Erwachsenwerden und weiter im Leben bis zum Tod.
Das ist auf der Ebene des Geistigen, des Denkens im weiteren Sinne, der bewußten Vorstellungen, der auf die Bemeisterung der Welt gerichteten Absicht zur Selbstbehauptung des Erbguts über die Generationen, der ihr dienenden, sie orientierenden Grundentscheidungen der Ethik und der Moral, des Strebens nach der idealen Art und Weise, das unabdingbare Geschäft des Lebens als kulturell evolutionäre Lebewesen zu betreiben.
Wer denkt, philosophiert. Wer philosophiert, untersucht das Absolute und Letztgültige. Wer philosophiert, sucht das Ideal und spürt den Idealismus.
Die Wahrheit und vor allem dann die Gerechtigkeit sind schon Unterformen der Liebe. Die Schönheit ist eine weitere Kategorie der Liebe.
Die Suche nach der Erkenntnis um der Erkenntnis willen entspringt dem Interesse an der Wirklichkeit. Es drängt uns, sie zu begreifen als vertraut, als eines Geistes mit dem eigenen. Was sie in allem Menschenwerk Verdanktem auch ist.
Und was sie in allem tierischem Werk Verdanktem auch ausreichend ist. Was sie als Lebenswelt für Organismen von Anfang an war und ist und bleibt: das ewige, immer schon gegebene unmittelbare Du, so intim wie ein personales, geistiges und emotionales Du. Seit Milliarden Jahren vertraut.
Die Dinge und Wesen der Welt in ihrer Wahrheit zu sehen, ist das Erkennen in der Liebe.
Je bedingungsloser die Liebe ist, desto unverzerrter die Sicht und desto unverhüllter offenbar ist die Wahrheit.
Die Eigenlogik der Phänomene zeigt sich am leichtesten, wenn man alles Mögliche und Unmögliche für im Stande hält, sich herauszustellen.
Der Augenblick der Einsicht und das Verweilen in der Erkenntnis sind an Süße der Süße des Spürens der Liebe gleich.
Die Liebe läßt sich der Mensch nicht nehmen, nicht einmal sich abgewöhnen oder schlechtmachen. Keinesfalls als Ideal und Fundamentalismus.
Solange die Umstände es ihm ermöglichen, dem Ideal und Fundamentalismus der Liebe zu folgen, ob emotional oder philosophisch vergegenwärtigt, ist er unterm Strich mit seinem Alltag und seinem Leben zufrieden.
Warum? Weil die Liebesreligion ihm genug an Kraft und Zuversicht gibt, die Mühen und Herausforderungen auf sich zu nehmen, weil sie ihm einen großen und größeren Sinn, Wert und Zweck vermittelt.
Die Liebe als Waisenkind
Empörungsappell
Wenn die Umstände das verhindern oder unzumutbar erschweren, empört sich das Subjekt als geistiges wie als organismisches mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln.
„So geht das nicht, damit kann ich nicht zufrieden oder auch nur erträglich zurechtkommen!“
Und sucht, Abhilfe zu bewirken. Mit allen zu Gebote stehenden Mitteln.
Der erste Versuch ist durch Aktion, wenn das nicht hilft, kommt der Appell durch Kommunikation an andere, sich abhelfend zu engagieren.
Hilfsappell
Welche Kommunikationsstrategien, welche Taktiken und welche Inszenierungen und Topoi Erfolg versprechen, werden eingesetzt, um die Adressaten zur Zuwendung zur Unzufriedenheitsmisere zu motivieren.
„Hilf mir, mich wieder zufrieden zu machen, ich bring’s unter diesen Umständen allein nicht fertig!“
Diese individualisierte Überforderungserklärung kommt dann, wenn die allgemeinenen Umstände als allgemein überfordernde zu erkennen und zu benennen tabuisiert ist.
Entpolitisierte, individualisierte Empörung
Wenn im 19. Jahrhundert die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft unerträglich hart waren, kam keiner auf die Idee, sich mittels Depressionen dem Betrieb zu entziehen. Stattdessen gründete man Gewerkschaften, die bessere Bedingungen forderten und erkämpften.
Manager kommen auch heute noch nicht auf die Depressionsidee, dafür aber auf die des Burnouts, einer statuskoscheren Version der Zurückweisung der menschenunwürdigen Überforderung.
Auch da geht es unmittelbar um die Liebe. Wer nicht genug leistet, ist der Liebe nicht wert, ist die Doktrin. Für Liebe als zu süßlichen Begriff kann man Achtung, Anerkennung, Lob, Respekt, Ehre einsetzen.
Die Endzeitsehnsucht
Dem politischen Verständnis und der politischen Aktion ist das Tabu entgegengesetzt, das mit dem „Ende der Zivilisation“ rationalisiert wurde.
Es gibt keine radikal unbillige Politik mehr, also auch keine Berechtigung zu radikalem politischen Protest oder gar Widerstand oder sogar Revolution!
Es ist alles im Grunde gut. Wir brauchen und sollen und dürfen es bloß noch immer ein bißchen besser machen und – ansonsten – aufpassen, daß es nicht wieder ernsthaft schlechter wird, als es schon war.
Politik, Staat, Gesellschaft, Kultur – alles im Grunde in Ordnung, in lobenswerter und befriedigender Verfassung mit den unvermeidlichen kleinen Oszillationen, die wir aber sichtlich und wie selbstverständlich jeweils beizeiten korrigieren.
Wir können uns sehen lassen!
Die erste Periode in der Geschichte, von der man das sagen kann!
Wenn nur die vielen Depressionen nicht wären, die ADHDs, die Sozialphobien, die posttraumatischen Belastungsstörungen, die Autismen, die Bipolarien, die emotionalen Labilitäten, die Eßstörungen!
Die verderben das stolze Bild. Und kosten Milliarden.
Profitable Protesttherapie
Immerhin bringen sie auch Milliarden. Die Psychiatrie und die Psychopharmakaindustrie leben von ihnen wie der Herrgott in Frankreich. Inzwischen haben auch die Allgemeinmediziner ihren Anteil am Profit zuerkannt bekommen.
Jetzt soll 1 Dollar für das SSRI-Rezept 4 Dollar Unternehmensprofit ergeben, das ist ein anständiger R.O.I. (Return On Investment).
Beim politisch bewußtlosen individualisierten Protest und Hilfsappell gibt es zwei Unterstufen der Selbstobjektivierung.
Die eine besteht darin, daß man sich noch als Subjekt des Lebensgestaltens, sei es auch des noch so defensiven, versteht und daher Zuwendung eines Subjekts zum eigenen Ich als den adäquaten Bezug, nämlich Inspiration beim Problembewältigen, annimmt.
Die andere besteht darin, daß man sich objektiviert als rezeptiver Erlebender, Erduldender, Ertragender, als Opfer von Umständen jenseits der eigenen Kontrolle, die wahlweise außerhalb oder innerhalb des eigenen Selbst, bei Bedarf auch in beliebiger Kombination, angesiedelt werden können.
Man soll also Psychotherapie oder Psychopharmaka benutzen. Man muß es wohl oder übel. Man will es sollen, man will es wohl oder übel müssen.
Regression ist alternativlos
Die Perspektive auf die Umstände in ihrer Unzumutbarkeit ist als kulturelle Interpretation nicht existent. Historisch: nicht mehr präsent.
Daß der Kapitalismus strukturell bedingt das Menschliche, das Persönliche wie das Kulturelle eskalierend vereinnahmen wird, war das letzte Mal in den 1970er Jahren Thema. Daß die Entfremdung und Entsubjektivierung droht, wird heute – 40 Jahre Beobachtung später – nicht als sich bewahrheitet habende Warnung beschrieben, thematisiert, nicht einmal vermerkt.
Es gibt die da oben nicht mehr, den Klassenfeind nicht mehr, alle haben den gleichen Luxus und die gleichen Freiheiten und die gleichen Pflichten. Alle sind wissentliche Mitgestalter und Mitbetreiber des ökonomistischen Kultur- und Staatsbetriebs. Sie kaufen sich Aktien, die nur steigen, wenn sie selbst sich noch mehr antreiben lassen und den Streß auf sich nehmen. Beim Arbeiten und beim Kaufen.
Links ist aber noch nicht so desavouiert, daß es nicht als schicke Gesinnung und Analyseraster herhalten dürfte. Jeden Augenblick könnte einer auf die Idee kommen, von Entfremdung zu schreiben, einer der Heutigen. Dann wäre Feuer am Dach der Sozialdemokratie samt ihrer liberalen Morbiditätskogaranten.
Der Konsumkapitalismus hat alles getan und betreibt es täglich kunstvoller weiter, den zu Käufern ausersehenen Menschen die Selbstdisziplin, die Selbstbeherrschung, die Vernunft und das Verantwortungsbewußtsein zu schwächen. Nicht einmal vor den kleinen Kindern macht man halt.
Das Ergebnis ist, daß die willensschwachen und haltlosen, unbegrenzt animierbaren Kaufroboter nicht gleichzeitig unbegrenzt selbstdisziplinierte Arbeitsroboter sein können. Im Gegenteil, was sie dafür bräuchten, würde sie für die Rolle des sekundenschnell illusionierbaren und emotionalisierbaren Kaufviehs ungeeignet machen.
Man macht Kinder zu verwöhnten Fratzen und schlägt dann die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie als Erwachsene von allem und jedem überfordert tun.